Heutiger Tagi-Artikel 
Thursday, 07.November 2013, 07:56
Der Kampf um Kirkwall

Auf den schottischen Orkneyinseln wird an Weihnachten und Neujahr eine jahrhundertealte Tradition zelebriert: Die Ba’Games, ein hartes Ballspiel für Männer. Prellungen, Schürfungen, gebrochene Rippen inklusive.

Die Meute kämpft im Hafen von Kirkwall: Der Sieger John Thomson (Mitte) darf den Ba’ nach Hause nehmen und geht in die Annalen ein. Foto: Thomas Brunner

Raue Nordatlantikküste: Orkney besteht aus über hundert Inseln. Foto: Getty Images

Von Anne-Marie Vaterlaus Aber nicht doch. Der Nordatlantik ist viel zu kalt, um darin rumzustehen. «Adrenalin. Die spüren das nicht», sagt einer neben mir, der Gedanken lesen kann. Zusammen mit Hunderten von Zuschauern stehen wir dicht an dicht an der Hafenmole von Kirkwall und schauen einem Grüppchen hartgesottener Kerle zu, die im Hafenbecken um einen Ball kämpfen. Das Christmas Ba’Game geht ins Finale. Es ist der 25. Dezember, Weihnachtstag, kurz nach acht Uhr abends. Nieselregen, Wind, das Übliche für diese Jahreszeit.

War das ein Spiel! Sieben knochenharte Stunden Massengedränge, -geschubse und -gequetsche kreuz und quer durch die Gassen und Strassen des pittoresken Wikinger-Städtchens, eines der längsten Spiele überhaupt. Ein Pulk von gegen 300 Männern, und mittendrin der Ba’, ein Ball. Meistens wird er getragen, selten geworfen. Die einen, die Uppies aus der Oberstadt, wollen ihn unbedingt an die Hauswand an der Ecke Main Street befördern; die aus der Unterstadt, die Doonies, ins Hafenbecken. Die Folge: Prellungen, Schürfungen, gebrochene Rippen. Ein Sanitäter läuft mit, sieben Stunden lang, nonstop.

Die Orkadier, übrigens, sind nette Leute: freundlich, höflich, zurückhaltend. Bei den Ba’Games aber triumphiert der Krieger in ihnen, und der kennt kein Pardon. «For fuck’s sake, move!», brüllt einer dem anderen ins schweissnasse Gesicht, während sich die Zuschauer am Rand des Geschehens artig «Merry Christmas» wünschen.

So ist das nun mal: «Du musst mit ganzem Herzen dabei sein, sonst hältst du nicht durch», meint Bruce Moar, Familienvater und Uppie Ba’Winner 2003. Und Graeme Cromarty, der wie jedes Jahr von der Bohrinsel vor Holland extra wegen der Spiele in seine alte Heimat geflogen ist, erklärt: «Nach einer halben Stunde spürst du die ersten Schmerzen. Danach wirds zu einer Willensfrage.»

Verbarrikadierte Häuser

Aber fangen wir von vorne an: Kirkwall, gegen ein Uhr mittags. Stille vor dem Sturm. Majestätisch thront die SanktMagnus-Kathedrale im fahlen Winterlicht. Auf dem Rasenplatz zu ihren Füssen, dem Kirk Green, das alte Marktkreuz auf steinernem Sockel. Kirkwall is ready: Die Zugänge zum Rathaus sind mit Eisenplatten verbarrikadiert, die Fenster, Türen und Nischen im Umkreis der knapp einen Kilometer langen Hauptroute durch die Altstadt mit dicken Eichenbrettern verrammelt.

Dann ist es so weit, die Gladiatoren marschieren auf. Aus der Victoria Street treten die Uppies, aus der Albert Street die Doonies, alle in Kampfmontur: Jeans, Leibchen, feste Schuhe, reissfestes Scotchtape um alles, was nicht verrutschen soll. Unter dem Marktkreuz rotten sie sich zusammen. Ein Fotograf steht viel zu nah. «Geh aus dem Weg, oder du bist tot!», ruft einer. Die Menge lacht.

Dann tritt Fred Corsie, ein altgedienter Spieler, auf den Sockel, wirft den Ba’ in hohem Bogen mitten ins «pack», wo er sogleich verschwindet. Von nun an gilt: offene Spieldauer, keine Regeln. Schon gibts Turbulenzen, schon mutiert der Pulk zum Mahlstrom. Und manchmal wirkt es, als fräse er sich durchs Städtchen wie ein Twister durch einen Katastrophenfilm.

«The Ba’ is there, look!», sagt Jim Cromarty vom Ba’Committee und zeigt auf einen dichten Knäuel. Die Meute kracht gegen ein Mäuerchen, wirbelt zurück über die Broad Street, bleibt an den Fenstern der Orkney Television Enterprise kleben. «Come on, Doonie boys!», schreit eine Frau, «Go Uppies, go!», eine andere. Die Leiber dampfen wie eine Herde auf der Winterweide.

Wer den Ba’ in die Arme kriegt, lebt gefährlich. Er wird attackiert, eingekeilt, gegen die nächste Hauswand gedrückt. Dort schnappt er nach Luft, während die anderen drücken. Vielleicht gelingt ihm wie Andrew von den Uppies ein «smuggle», ein Schmuggel. Er klemmt sich den Ba’ zwischen die Knie, windet sich aus dem Pulk nach aussen, packt das Ding, rennt los. «Wow», schreit die Menge. Andrew wirft den Ball einem Buddy zu, der schafft ein paar Meter Richtung Oberstadt. Dann hat die Menge ihn eingeholt. Am Ende ist klar: Die Doonie Boys haben gewonnen. Der Ball ist, wenn auch auf Umwegen, im Hafenbecken gelandet. Jetzt geht es darum, wer ihn nach Hause nehmen darf. Also macht ein harter Kern abgekämpfter Recken, bis zum Hintern im tintenschwarzen Wasser, die Sache unter sich aus.

Ohne Furcht und Tadel

Es geht nicht um Leben oder Tod. Es geht um mehr: Es geht um den Ba’, diesen handgenähten, mit Korkbröseln steinhart gestopften Lederball, den man als Mann nur einmal im Leben gewinnen kann. Oder wie es George Drever, Doyen der Ba’ Maker, formuliert: «Wer den Ba’ gewinnt, hat mindestens zwanzig Jahre lang gut und hart gespielt. Einen Ba’ sein Eigen nennen zu können, ist etwas vom Wertvollsten, was einem Orkadier passieren kann.»

Welchem Anwärter soll die Ehre zuteilwerden? Die Anhänger sind sich uneins. «John Thomson», schreit eine junge Frau, ein Mann brüllt: «Pete.» Am Ende schafft es John, 48 Jahre alt. «Ein guter Mann», wie ein älterer Herr anerkennend bestätigt. Und Chris, der nach Orkney ausgewanderte Engländer, schüttelt bestens gelaunt den Kopf: «Was für ein durchgeknalltes Spiel.» John Thomson aber, ab sofort Doonie Ba’Winner Christmas 2012, wird das Objekt der Begierde mit nach Hause nehmen und erst mal ordentlich feiern. Danach schlafen. Und dann aufwachen mit seinem Namen in den Annalen. Ganz Kirkwall wird ihn kennen, der «Orcadian» über ihn schreiben. Ja, ja, werden sie sagen, der John Thomson ist ein Spieler ohne Furcht und Tadel, er hat die Ehre verdient. Und die Uppies werden sich für das zweite Spiel am Neujahrstag 2013 etwas einfallen lassen müssen.

Besuch bei Jim Cromarty, Uppie-Veteran und pensionierter Sportlehrer. Jims Bruder John, ein Doonie, wird am Neujahrstag den Ba’ einwerfen. Zwei Brüder, einer Uppie, der andere Doonie: Wie kommt das? Früher war der Geburtsort entscheidend. Jim, der ältere, wurde im Spital in der Oberstadt geboren, John zu Hause in der Unterstadt. Heute vererbt sich die Zugehörigkeit vom Vater auf den Sohn, und der spielt mit allergrösster Wahrscheinlichkeit im Alter von 9 bis 15 bei den Boys’ Ba’ mit, bevor er mit 16 zu den ganzen Kerlen wechselt.

Wir sitzen in der gemütlichen Küche, und Jim erzählt von seinem Nahtoderlebnis. Wie er einst während eines Spiels stolperte, zu Boden ging und sie auf ihm rumtrampelten. Wie er zuerst in Panik geriet und danach ganz ruhig wurde: «Das wars», dachte ich. Heute streckt einer die Hand hoch, wenn ein Spieler unten liegt. Dann gibts eine kleine Pause. Nichts wäre für die Ba’Games schlimmer als ein Todesfall. Es wäre das Aus nach mehr als 300 Jahren.

Früher gab es Massenspiele in ganz Orkney, heute nur noch in Kirkwall. Die Ursprünge liegen im Dunkeln. Handelte es sich um ein Fruchtbarkeitsritual? Oder symbolisierte der Ball einen verhassten Tyrannenschädel? Wer weiss. Tatsache ist, die Ba’Games werden immer beliebter und immer sportlicher. Heute kämpfen Rugby-Typen bis zum Umfallen, und wenn sie gewinnen, kriegen sie feuchte Augen. «It’s very emotional», sagen sie. «Als George aus gesundheitlichen Gründen aufhören musste, liefen ihm die Tränen runter», verrät Muriel Drever, seine Frau: «Ich glaube, die Ba’Games sind für die Männer eine gute Gelegenheit, Gefühle zu zeigen, auch zärtliche. Auf einmal kommen sie einander so nah wie sonst nie.»

Die Revanche

Kann man wohl sagen. Wir schreiben Dienstag, Neujahrstag 2013. Auf dem Parkplatz unten bei der Castle Street hat sich der Pulk im 90-Grad-Winkel einer frei stehenden, schulterhohen Mauer verkeilt. Die aussen drücken denen innen die Luft raus. Spielmacher hocken auf der Mauer, beobachten ihre Truppe, brüllen Direktiven. Ein Spieler kann nicht mehr. Männer steigen auf die Mauer, schrauben ihn raus wie einen Korken aus der Flasche. Frauen bringen Wasser, Glukose. «Der Ba’ ist bei den Uppies, jetzt wollen die Doonies an ihn ran», sagt einer. Langsam wird es dunkel, die Kälte kriecht durch alle Schichten. Nach zwei Stunden wagen wir es: Tea Time.

Als wir zurückkommen, ist der Parkplatz leer gefegt. Am Hafen ebenfalls Totenstille. Also nichts wie rauf in die Oberstadt. Und tatsächlich: Der Ball klatscht an die Hauswand, die Uppies haben gewonnen! Was ist passiert? Keiner weiss es. Klar ist nur: Greig Rorie ist der New Year’s Day Ba’Winner 2013. Fotoapparate klicken. Die Menge löst sich nach und nach auf. Die Doonies gehen enttäuscht nach Hause, die Uppies in die Royal Bar.

Wie haben die Uppies, diese Schlaumeier, das geschafft? Bruce Moar weiss Bescheid: Während die Meute in der Mauerecke klebte, machten sich die Uppies an die Arbeit, unternahmen ein paar fingierte Ausbrüche, bis alle konfus hin- und herflitzten und keiner merkte, wie ein kleines Grüppchen sich klammheimlich mit dem Ba’ Richtung Oberstadt davonmachte. Als es den Doonies dämmerte, dass etwas nicht stimmte, war es zu spät. Ein «smuggle» wie aus dem Bilderbuch. Köpfchen braucht es, nicht nur Muskeln.

Comments

Add Comment
Fill out the form below to add your own comments.









Insert Special:
:-) :-/ :-\ :-| ;-)







Moderation is turned on for this blog. Your comment will require the administrators approval before it will be visible.